Es war einmal ein schönes Mädchen, das hieß Helene. Ihre Mutter war früh gestorben, und die Stiefmutter, die sie bekommen hatte, that ihr alles gebrannte Herzeleid an. Helene gab sich alle Mühe, ihre Liebe zu gewinnen, sie verrichtete die schweren Arbeiten, die ihr auferlegt wurden fleißig und unverdrossen, aber die böse Stiefmutter blieb in ihrem harten Herzen ungerührt und verlangte immer mehr von ihr. Denn weil Helene so emsig und unermüdlich war, daß sie immer bei Zeiten mit ihrer Arbeit fertig wurde, so glaubte sie, was sie ihr auferlegt habe, sei noch zu leicht und zu gering gewesen, und sann auf neue schwere Beschäftigungen. Eines Tages verlangte die Alte von Helene, diese solle zwölf Pfund Federn in einem Tage abschleißen, und drohte ihr mit harten Strafen, wenn sie Abends nach Hause zurück käme, und die Arbeit sei nicht von Helene gethan.
Das arme gequälte Mädchen setzte sich mit Angst und Thränen zu ihrer Arbeit und konnte vor Kummer kaum einen Anfang machen. Wenn sie aber endlich ein Häufchen geschliffener Federn vor sich liegen hatte, da mußte sie wieder an ihre Noth denken und bitterlich weinen, und dann stoben die Federn von ihrem Seufzen auseinander. So ging es ihr immer wieder und ihre Angst stieg auf das Höchste. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, bückte sich über den Tisch, und rief weinend aus: „Ach! ist denn niemand auf Gottes Erdboden, der sich meiner erbarme?“ Da antwortete auf einmal eine sanfte Stimme: „Tröste Dich, mein Kind, ich bin gekommen Dir zu helfen.“ Erschrocken sah Helene auf und erblickte eine Fee, die freundlich fragte: „Was weinst Du so?“ Helene hatte lange kein freundliches Wort gehört, sie faßte Vertrauen zu der Erscheinung und erzählte, was ihr für eine Arbeit aufgegeben sei und daß sie damit unmöglich zur bestimmten Zeit fertig werden könne. „Sei ohne Sorgen, mein Kind!“ sprach die freundliche Fee, „lege Dich ruhig schlafen; unterdessen will ich Deine Arbeit verrichten.“ Helene legte sich zur Ruhe und unter den Händen der Fee flogen die Federn selbst von den Kielen, so daß die Arbeit lange vor der gesetzten Frist fertig war. Darauf weckte die Fee Helene, die allen Kummer verschlafen hatte, und verschwand, als diese ihr danken wollte. Am Abend kam die böse Stiefmutter nach Hause. Wie erstaunte sie, als sie Helenen neben der fertigen Arbeit ruhig sitzend fand. Sie lobte zwar ihren Fleiß, dachte aber bei sich auf neue und schwerere Arbeiten.
Am andern Tage befahl sie Helenen, einen großen Teich, der in der Nähe lag, mit einem Löffel auszuschöpfen, und der Löffel, den sie ihr dazu gab, war durchlöchert. Helene machte sich an ihre Arbeit, aber bald sah sie ein, daß es unmöglich war, das Gebot ihrer bösen und tückischen Stiefmutter zu erfüllen. Voll tiefer Kümmerniß und Angst wollte sie schon den Löffel von sich werfen, als plötzlich die gute Fee vor ihr stand und sie freundlich fragte, warum sie so betrübt sei? Als Helene ihr von dem Gebote der Stiefmutter erzählt hatte, sprach sie: „Verlaß Dich auf mich; ich will Deine Arbeit für Dich verrichten. Lege Dich unterdessen ruhig schlafen.“ Helene war getröstet und legte sich zur Ruhe, aber bald ward sie von der Fee leise geweckt und erblickte das vollbrachte Werk. Voller Freuden eilte sie zu ihrer Stiefmutter und hoffte, ihr Herz würde sich endlich erweichen. Aber diese ärgerte sich darüber, daß ihre Tücke so wunderbar vereitelt worden war und sann auf noch schwierigere Aufgaben.
Als es Morgen geworden war, befahl sie Helenen, bis zum Abende ein schönes Schloß zu bauen, das sogleich bezogen werden könne und an dem nichts fehlen dürfe, weder Küche noch Keller noch irgend Etwas. Helene setzte sich niedergeschlagen auf den Felsen, der ihr zum Bau angewiesen war und tröstete sich nur mit der Hoffnung, daß ihr die gute Fee auch diesmal aus ihrer Noth helfen werde. So geschah es auch. Die Fee erschien, versprach das Schloß zu bauen und schickte Helenen wieder zur Ruhe. Auf das Wort der Fee erhoben sich Felsen und Steine und fügten sich in einander, so daß bald ein prächtiges Schloß da stand. Vor Abend war auch inwendig alles fertig und in vollem Glanze. Wie dankbar und freudig war Helene, als sie die schwere Aufgabe ohne ihr Zuthun erfüllt sah. Aber die Stiefmutter freute sich nicht, sondern ging schnüffelnd und spürend durch das Schloß von oben bis unten, ob sie nicht irgend einen Fehler fände, wegen dessen sie Helenen ausschelten und strafen könnte. Endlich wollte sie auch den Keller betrachten, aber in dem Augenblicke, wo sie die Fallthüre erhoben hatte und hinabsteigen wollte, schlug die schwere Thüre plötzlich zurück, so daß die böse Stiefmutter die Treppe hinabstürzte und sich zu Tode fiel.
Nun war Helene selber Herrin des Schlosses und lebte in Ruhe und Frieden. Bald kamen viele Freier, die von ihrer großen Schönheit gehört hatten. Unter ihnen war auch ein Königssohn mit Namen Laßmann, und dieser erwarb sich die Liebe der schönen Helene. Eines Tages saßen beide vertraulich vor dem Schlosse unter einer hohen Linde beisammen und Laßmann sagte Helenen, daß er von ihr zu seinen Aeltern reisen müsse, um ihre Einwilligung zu seiner Heirath sich zu holen, und bat sie unter der Linde seiner zu warten. Er schwur ihr, sobald als möglich zu ihr zurückzukehren. Helene küßte ihn beim Abschiede auf den linken Backen und bat ihn, so lange er von ihr entfernt sein werde, sich von niemand Anderem auf diesen Backen küssen zu lassen. Unter der Linde wolle sie ihn erwarten.
Helene baute felsenfest auf Laßmann’s Treue und saß ganzer drei Tage lang vom Morgen bis zum Abende unter der Linde. Als aber ihr Bräutigam immer noch nicht kam, gerieth sie in schwere Sorge und beschloß sich auf den Weg zu machen und ihn zu suchen. Sie nahm von ihrem Schmucke so viel sie konnte, auch von ihrem Kleidern nahm sie drei der schönsten, eins mit Sternen, das andere mit Monden, das dritte mir lauter Sonnen von reinem Golde gestickt. Weit und breit wanderte sie durch die Welt, aber nirgend gerieth sie auf eine Spur ihres Bräutigams. Am Ende verzweifelte sie ganz daran, ihn zu finden und gab ihr Suchen auf, aber nach ihrem Schlosse wollte sie doch nicht heimkehren, weil ihr dort ohne ihren Bräutigam alles öde und verlassen vorkommen mußte; lieber wollte sie in der Fremde bleiben. Sie vermiethete sich bei einem Bauer als Hirtin und vergrub ihren Schmuck und ihre schönen Kleider an einem verborgenen Orte.
So lebte sie nun als Hirtin und hütete ihre Heerde, indem sie an ihren Bräutigam dachte. Sie gewöhnte ein Kälbchen von der Heerde an sich und hatte an ihm ihre Freude, fütterte es aus ihrer Hand und richtete es ab, vor ihr nieder zu knieen, wenn sie zu ihm sprach:
„Kälbchen, knie nieder
Und vergiß Deiner Ehre nicht, wie der
Prinz Laßmann die arme Helene vergaß,
Als sie unter der grünen Linde saß.“
Nach einigen Jahren, die sie so verlebte, hörte sie, die Tochter des Königs in dem Lande, wo sie jetzt wohnte, werde ein Königssohn mit Namen Laßmann heiraten. Darüber freuten sich alle Leute, aber Helenen überfiel ein noch viel größerer Schmerz, als sie bisher erlitten hatte, denn sie hatte immer noch auf Laßmann’s Treue vertraut. Nun traf es sich, daß der Weg zur Königsstadt nicht weit von dem Dorfe vorbei ging, wo Helene sich als Hirtin verdingt hatte, und so geschah es oftmals, wenn sie ihre Heerde hütete, daß Laßmann an ihr vorüber ritt, ohne sie zu beachten, indem er ganz in Gedanken an seine Braut versunken war. Da fiel es Helenen ein, sein Herz auf die Probe zu stellen und zu versuchen, ob es nicht möglich sei, ihn wieder an sie zu erinnern. Nicht lange darauf kam Laßmann wieder einmal vorüber; da sprach Helene zu ihrem Kälbchen:
„Kälbchen, knie nieder
Und vergiß Deiner Ehre nicht, wie der
Prinz Laßmann die arme Helene vergaß,
Als sie unter der grünen Linde saß.“
Als Laßmann Helenens Stimme hörte, da war es ihm, als solle er sich auf Etwas besinnen, aber hell wurde ihm nichts, und deutlich hatte er auch nicht die Worte vernommen, da Helene nur leise und mit zitternder Stimme geredet hatte. So war auch ihr Herz viel zu bewegt gewesen, als daß sie hätte Acht geben können, welchen Eindruck ihre Worte machten, und als sie sich faßte, war Laßmann schon wieder weit von ihr fort. Doch sah sie noch, wie er langsam und nachdenklich ritt, und deßhalb gab sie sich noch nicht ganz verloren.
In diesen Tagen sollte in der Königsstadt mehrere Nächte hindurch ein großes Fest gegeben werden. Darauf setzte sie ihre Hoffnung und beschloß, dort ihren Bräutigam aufzusuchen. Als es Abend war, machte sie sich heimlich auf, ging zu ihrem Verstecke und legte das Kleid, das mit goldenen Sonnen geziert war und ihr Geschmeide an, und ihre schönen Haare, die sie bisher unter einem Tuche verborgen hatte, ließ sie fessellos rollen. So geschmückt ging sie in die Stadt zum Feste. Als sie sich zeigte, da wandten sich Aller Augen auf sie, alles verwunderte sich über ihre Schönheit, aber niemand wußte, wer sie war. Auch Laßmann war von ihrer Schönheit wie bezaubert, ohne zu ahnen, daß er einst mit diesem Mädchen ein Herz und eine Seele gewesen war. Bis zum Morgen wich er nicht von ihrer Seite und nur mit Mühe konnte sie in dem Gedränge ihm entkommen, als es Zeit war heimzukehren. Laßmann suchte sie überall und erwartete sehnlich die nächste Nacht, wo sie versprochen hatte, sich wieder einzufinden. Am andern Abende begab sich die schöne Helene wiederum so zeitig als sie konnte auf den Weg. Diesmal hatte sie das Gewand an, das mit lauter silbernen Monden geziert war und einen silbernen Halbmond trug sie über ihrer Stirne. Laßmann war froh sie wieder zu sehen, sie schien ihm noch viel schöner zu sein als gestern und die ganze Nacht tanzte er allein mit ihr. Als er sie aber nach ihrem Namen fragte, antwortete sie, sie dürfe ihn nicht nennen, wenn er nicht erschrecken solle. Darauf bat er sie inständig den nächsten Abend wieder zu kommen, und dies versprach sie ihm. Am dritten Abend war Laßmann vor Ungeduld frühzeitig in dem Saale und verwandte kein Auge von der Thür. Endlich kam Helene in einem Gewande, das mit lauter goldenen und silbernen Sternen gestickt war und von einem Sternengürtel festgehalten wurde; ein Sternenband hatte sie um ihre Haare geschlungen. Laßmann war noch mehr als vorher von ihr entzückt und drang in sie mit Bitten, sich ihm endlich zu erkennen zu geben. Da küßte Helene ihn schweigend auf den linken Backen, und nun erkannte Laßmann sie auf einmal wieder und bat voll Reue um ihre Verzeihung; und Helene, froh ihn wieder gewonnen zu haben, ließ ihn nicht lange darauf warten.
Aus der Märchensammlung von Ludwig Bechstein.