In der idyllischen Kleinstadt Friedenau, das bekannt war für seine gepflegten Vorgärten und das offensichtliche harmonische Zusammenleben, lebte der Lehrer Thomas. Er war ein Mann, der seine Meinung stets offen und ehrlich äußerte, auch wenn sie unbequem war. Thomas sprach über soziale Ungerechtigkeiten, hinterfragte politische Entscheidungen und regte Diskussionen über kontroverse Themen an.
Zuerst schätzten viele Bürger Thomas‘ Engagement. Doch mit der Zeit fühlten sich einige, die sich selbst als die „Anständigen“ bezeichneten, zunehmend unwohl und eingeengt. Diese Gruppe, bestehend aus einflussreichen Bürgern, Gemeinderatsmitgliedern und lokalen Unternehmern, sah in Thomas‘ Worten eine Bedrohung für den Frieden und die Ordnung in Friedenau. „Er stört den sozialen Frieden“, flüsterten sie. „Seine Worte säen Zwietracht in unserer harmonischen Gemeinschaft.“
Die „Anständigen“ begannen, zuerst Geheim und subtil gegen Thomas vorzugehen. Sie organisierten Treffen, bei denen sie über die „Gefahren von extremen Meinungen“ sprachen. In der Lokalzeitung erschienen Artikel, die vor den „destabilisierenden Effekten radikaler Ideen“ warnten, ohne Thomas direkt zu nennen. Leserbriefe wurden entsprechend Versand und Blickfreundlich eingestellt.
Bald darauf wurde Thomas zu einem Gespräch mit der Schulleitung gebeten. Man teilte ihm mit, dass seine „kontroversen Ansichten“ nicht mit dem Bildungsauftrag der Schule vereinbar seien. Er wurde gebeten, sich in Zukunft zurückzuhalten. Die „Anständigen“ gingen noch weiter. Sie initiierten eine Kampagne für „respektvolle Kommunikation“ in der Stadt. Unter dem Deckmantel der Höflichkeit wurde jede Form von Kritik oder abweichender Meinung als „unangemessen“ gebrandmarkt.
Thomas fand sich zunehmend isoliert. Freunde und Kollegen mieden ihn, aus Angst, selbst ins Visier der „Anständigen“ zu geraten. Bei Stadtversammlungen wurde sein Mikrofon abgeschaltet, wenn er das Wort ergriff. Die finale Eskalation kam, als die „Anständigen“ eine Anordnung zur „Wahrung des Stadtfriedens“ vorschlugen. Diese Anordnung würde es ermöglichen, Personen, die den „sozialen Zusammenhalt gefährden“, mit Geldstrafen zu belegen oder gar aus der Stadt zu verweisen.
Als Thomas öffentlich gegen dieses Gesetz protestierte, wurde er verhaftet – wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“. In der Stille, die folgte, erkannten einige Bürger die bittere Ironie: Im Namen der Anständigkeit und des Friedens hatten sie die Grundpfeiler der Demokratie geopfert.
Die Stadt Friedenau war nun friedlich – aber es war der Frieden eines Friedhofs, wo keine abweichende Stimme mehr zu hören war.
Diese Geschichte mahnt uns: Die größte Gefahr für die Demokratie kommt nicht von denen, die ihre Meinung frei äußern, sondern von jenen, die im Namen der Anständigkeit die Freiheit des Wortes ersticken.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors Klaus Adolf Kreuzer